Menschen mit Behinderungen fordern echte Teilhabe – Koalitionsvertrag mit Licht und Schatten
Anlässlich des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai ziehen der Paritätische Wohlfahrtsverband Niedersachsen e. V., der Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e. V., die Lebenshilfe Landesverband Niedersachsen e. V. und der SoVD-Landesverband Niedersachsen e. V. eine erste gemeinsame Bilanz des Koalitionsvertrags der künftigen Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD.
Die vier niedersächsischen Sozialverbände begrüßen grundsätzlich, dass mit dem Koalitionsvertrag zentrale Bereiche der Inklusionspolitik aufgegriffen werden. Gleichzeitig weisen sie auf gravierende Lücken, fehlende Beteiligungsstrukturen und mangelnde Konkretisierungen hin. „Der Koalitionsvertrag enthält viele gute Ansätze. Entscheidend wird jedoch die konsequente Umsetzung unter Beteiligung der Betroffenen selbst sein“, sagt Kerstin Tack, Vorsitzende des Paritätischen Niedersachsen. „Gleichstellung ist kein Geschenk, sondern ein verfassungsrechtlicher Auftrag – und der muss ernst genommen werden.“
Barrierefreiheit nicht nur beim Staat und Verbesserung im Bereich Arbeit
Als positiv zu bewerten sind die angekündigten Verbesserungen im Bereich Arbeit: „Die Weiterentwicklung des Budgets für Arbeit und ein höheres Werkstattentgelt sind wichtige Schritte hin zu mehr Gerechtigkeit. Entscheidend wird sein, wie schnell und unbürokratisch diese Verbesserungen bei den Menschen ankommen“, sagt Frank Steinsiek, Landesgeschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen.
Auch dass Bestandsbauten des Bundes bis 2035 barrierefrei werden sollen, ist ein positives, aber nicht ausreichendes Signal: „Barrierefreiheit darf nicht an der Tür von Bundesgebäuden enden“, betont Gerd Schwesig, Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenverbands Niedersachsen e. V. „Ohne verpflichtende Regelungen auch für private Anbieter bleiben viele Menschen weiterhin ausgeschlossen.“
Auch die Lebenshilfe Niedersachsen fordert eine Umsetzung echter Barrierefreiheit und verweist auf eine aktuelle Kampagne, die gezielt darauf aufmerksam macht: „Mit dem Hashtag #WirSind10Millionen macht die Aktion Mensch sichtbar, was viele nicht wahrhaben wollen: Diskriminierung durch fehlende Barrierefreiheit ist Alltag für 10,3 Millionen Menschen in Deutschland. Wir brauchen verbindliche Fristen, klare Zuständigkeiten und ein echtes Bewusstsein auf allen politischen Ebenen“, erklärt Frank Steinsiek.
EUTB, psychische Erkrankungen und Suizidprävention
Positiv bewerten die Verbände die Pläne zur Weiterentwicklung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) sowie den Fokus auf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Auch das geplante Suizidpräventionsgesetz wird ausdrücklich begrüßt. Dennoch mahnt der SoVD: „Wichtige Vorhaben dürfen nicht an mangelnder Finanzierung scheitern. Die neue Bundesregierung muss hier schnell für Planungssicherheit sorgen“, so Vorstandsvorsitzender Dirk Swinke.
Gewaltschutz und Bundesteilhabegesetz – Absichten reichen nicht aus
Auch beim Thema Gewaltschutz sendet der Koalitionsvertrag ein wichtiges Signal. Doch Kritik kommt von Seiten des Paritätischen Niedersachsen: „Es bleibt unklar, wie genau der Gewaltschutz in der Behindertenhilfe gestärkt werden soll“, sagt Tack. „Eine Absichtserklärung ersetzt keine wirksame Strategie.“
Zudem kritisieren die Verbände, dass Selbstvertretungen von Menschen mit Behinderungen, Fachverbände und Monitoring-Stellen nicht systematisch in die Weiterentwicklung des Bundesteilhabegesetzes eingebunden werden sollen. „Teilhabe bedeutet Mitsprache. Wer über Menschen mit Behinderung spricht, muss sie auch beteiligen und einbinden“, fordert Dirk Swinke.
Digitale Barrierefreiheit – Ankündigungen reichen nicht aus
Es ist zu begrüßen, dass die Digitalisierung weiter vorangetrieben wird. In der digitalen Welt müssen aber alle Menschen mitgenommen werden. Die angekündigte Stärkung der digitalen Barrierefreiheit ist richtig, bleibt jedoch vage. „Die digitale Teilhabe ist entscheidend – besonders für blinde und sehbehinderte Menschen“, so Gerd Schwesig. „Aber ohne verbindliche Standards und Kontrollen bleiben es leere Versprechen.“