Startseite Landesverband
Aus dem Jahr 2011

Warum Amar Youssef zur Wahl antritt

|

 Von Alda Maria Grüter

Anlässlich der Kommunalwahl im September empfahl der Niedersächsische Integrationsrat (NIR) während eines Fachtages mit Landesparteivorsitzenden den politischen Parteien, „Anstrengungen zu unternehmen, die Zahl der Mandatsträgerinnen und Mandatsträger mit Migrationshintergrund in allen Parlamenten und Räten zu steigern“. Nach Ansicht der NIR-Vorstandsvorsitzenden Dr. Koralia Sekler, sollten sich die Parteien verstärkt öffnen und als sichtbares Zeichen Führungspersonal aus den Reihen der Zugewanderten rekrutieren sowie Themen in ihren Plattformen diskutieren, die Eingewanderte ansprechen. Migrantinnen und Migranten sollten nicht nur als Spezialisten für Migrations- und Integrationsfragen in den Parteien betrachtet werden. Die politische Diskussion sollte nicht nur in Islam- oder Integrationskonferenzen, sondern besser in den Parlamenten und Räten stattfinden. Durch eine ausreichende Anzahl von Abgeordneten aus den Migrationsgruppen fühlen sich Zugewanderte angemessen vertreten. Vor Ort in den Kommunen und Gemeinden bleibt die Arbeit der Integrationsbeiräte weiterhin wichtig, nicht zuletzt auch als Sprungbrett für Migrantinnen und Migranten in die Kommunalparlamente.“

Michael Karabatsiakis, seit 1984 SPD-Mitglied, zurzeit Vorsitzender im Kultur- und Sportausschuss in Bad Pyrmont, ist seit 1996 ohne Unterbrechung im Bad Pyrmonter Stadtrat aktiv und kandidiert jetzt erneut. Der 63-jährige mit griechischem Pass, der seit 46 Jahren in der Kurstadt lebt, ist außerdem für den Kreistag aufgestellt. Neulinge bei den Kommunalwahlen sind beispielsweise die gebürtige Griechin Kula Koussaotologlou-Mund (FDP, Bad Pyrmont) und Amar Youssef (Wahlbereich Südstadt Hameln). Wie viele Kandidaten aus Migrationskreisen tätsächlich zum 11. September antreten, lässt sich noch nicht feststellen, da noch nicht alle Listen vorliegen.

 

Nach Einschätzungen von Dr. Feyzullah Gökdemir, Leiter des Integrationsbüros des Landkreises Hameln-Pyrmont, bringen sich immer noch zu wenige Migranten mit deutschem Pass in die heimische Politik ein. Etwa 26400 Personen mit Migrationshintergrund leben im Landkreis Hameln-Pyrmont, machen somit rund 17 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Auf kommunalpolitischer Ebene spiegele sich dies allerdings nicht wider. Dass hier nicht mehr ausländische Mitbürger politische Aufgaben übernehmen, sei unter anderem auf die fehlende politische Bildung zurückzuführen, so Gökdemir. Mit Gesprächen, Information und Bildungsarbeit könne man dem entgegensteuern: So organisiert das Integrationsbüro gemeinsam mit dem Forum Ausländer e.V. einen Informationsabend zur Situation von Migranten in der Kommunalpolitik.

Das Thema erörtern heute Abend um 18 Uhr in der Mensa des Hamelner Schiller-Gymnasiums Migrantenvereine und Migranten-Selbsthilfe-Organisationen in einer Podiumsdiskussion. Gastreferent Professor Dr. Haci-Halil Uslucan, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung und Professor für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen, hält einen Vortrag zum Thema „Vom Gastarbeiter zum Mitbürger – wie kann Integration gelingen?“. „Integration bedeutet Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen. Deswegen müssen sich mehr Menschen mit Migrationshintergrund auch an der Kommunalpolitik beteiligen“, sagt Gökdemir.

 

Für diejenigen, die sich auf die Wahllisten haben setzen lassen, ist dies eine Selbstverständlichkeit: „Ich wollte nie einfach nur mitlaufen, sondern mitgestalten“, sagt Michael Karabatsiakis. Schon als junger Mann habe er sich in seinem Heimatland Griechenland politisch engagiert. „Und es war immer ein Traum von mir, dass ich, wohin auch immer ich gehen würde, persönlich etwas für die Kommune mache.“ Ein Mensch der „Einbahnstraßen-Politik“ sei er allerdings nicht. Integration bedeute, dass man auf beide Seiten, auf die Einheimischen wie auf die Zugewanderten, zugehen und ihnen das gute Miteinander nahe bringen müsse. Kritik zu üben und sich eine eigene Meinung zu politischen Themen zu bilden, sei ja wichtig und gut, meint Michael Karabatsiakis weiter. „Aber man muss sie auch einbringen.“ Und man müsse dazugehören: „Wenn ich als fremdes Kind in eine Familie reinkomme, dann muss ich ein Teil dieser Familie werden.“ Viele aber fühlen sich unwohl und schotten sich schließlich ab: „Wir kommen aber nicht weiter, wenn es nicht Leute gibt, die diese Kinder in die Familie zurückholen“, beschreibt er eine seiner Aufgaben im Integrationsbeirat. Fügt außerdem hinzu, dass es leider nicht ausreichend Menschen mit Migrationshintergrund gebe, die am politischen Leben partizipieren.

 

Mal fehle die Zeit, mal würden familiäre und berufliche Gründe angeführt, sagt Kula Koussaotologlou-Mund. Manche würden kein Interesse zeigen, weil sie schlichtweg keine Probleme haben, andere wiederum, weil sie den Kopf in den Sand stecken und meinen, sowieso nichts bewegen zu können. „Und viele, weil sie sich nicht dazugehörig fühlen.“ Sie, die sich voll integriert fühlt, seit ihrem zweiten Lebensjahr in Deutschland lebt und mit einem Deutschen verheiratet ist, setzt sich seit vier Jahren im Integrationsbeirat für ausländische Mitbürger ein; vor zwei Jahren übernahm sie den Vorsitz des Integrationsrates in Bad Pyrmont, „um wenigstens ein bisschen politisch aktiv zu sein“. „Im Integrationsrat bin ich beratend tätig, habe aber kein Stimmrecht. Ich finde es wichtig, eine Stimme im Rat zu haben.“ Die Frage nach der Akzeptanz politischer Vertreter mit Migrationshintergrund beantwortet sie mit einem klaren „Ja“ – „Sie genießen das Vertrauen der verschiedenen Migrationsgruppen.“ Auf der FDP-Liste steht die 46-jährige Kinderkrankenschwester und Heilpädagogin mit griechischem Pass auf den Plätzen zehn (Kreistag) und fünf (Stadtrat).

 

Im Mittelfeld, an fünfter Position ist SPD-Kandidat Amar Youssef platziert. „Es ist das erste Mal, dass ich für die Kommunalwahl kandidiere.“ Politisch und in Sachen Integration ist er allerdings schon seit vielen Jahren aktiv: „2006 bin ich in die SPD eingetreten — das war schon immer meine Partei, auch als ich noch gar nicht wahlberechtigt war“, sagt der gebürtige Syrer, der seit 21 Jahren in Deutschland lebt und seit elf Jahren einen deutschen Pass besitzt. Ganz nebenbei: Die Mehrheit der in Hameln lebenden Kurden stehe hinter der SPD, meint Youssef. Dass einer von ihnen für die Wahl kandidiert, würden die ausländischen Mitbürger sehr begrüßen.

 

Ohnehin sei sein Lebensmittel-Geschäft an der Kaiserstraße/ Ecke Hafenstraße „eine zentrale Anlaufstelle für Menschen verschiedener Nationalitäten“: Kein Tag, an dem er nicht von jemandem aufgesucht werde, der Unterstützung benötige. Ob bei Behördengängen, Arztterminen oder Schreiben, die übersetzt werden müssen, ob Anträge zu stellen oder Tipps zur Jobsuche gefragt sind - Amar Youssef hilft in allen möglichen Angelegenheiten. So mancher, sagt er weiter, würde gern in die lokale Politik einsteigen, wisse aber nicht recht, wie es funktioniert und welche Möglichkeiten es überhaupt gibt. Dass Amar Youssef fünf Sprachen spricht – Kurdisch, Arabisch, Deutsch, Türkisch und Englisch – kommt ihm beim Vermitteln zwischen den Kulturen zugute. „Ich setze mich für eine bessere Zukunft für alle Menschen und für ein besseres Zusammenleben ein - ich mache keine Unterschiede, für mich sind alle Menschen gleich.“

 

Bei der „grünen Politik“, sagt Walid Rash, liege er richtig. Und weil er eben über das ehrenamtliche Engagement als freiwilliger Helfer im Hamelner Integrationsbüro hinaus noch mehr bewirken möchte, tritt der aus Syrien stammende 46-Jährige bei der Kommunalwahl für die Grünen an (Platz sechs für die Stadtratswahl im Wahlbereich 4). „Schon immer war ich politisch interessiert.“ Ausländer- und Umweltpolitik liegen ihm gleichermaßen am Herzen wie die Verteidigung der Menschrechte. „In meiner Heimat keine Themen, im demokratischen Deutschland ja, und das finde ich sehr gut.“ Für die Menschen in Syrien, denen Ungerechtigkeit widerfährt, macht er sich in einer Organisation stark, die Informationsveranstaltungen durchführt und auch mal mit einer friedlichen Demonstration vor die syrische Botschaft in Berlin zieht. Seit 2006 hat Walid Rash den deutschen Pass und seinen Platz in Hameln gefunden; hier fühle er sich wohl. 2004 hat sich Walid Rash in einer Umschulung zum Heizungs- und Lüftungsbauer ausbilden lassen, aber in diesem Beruf keine Anstellung gefunden, arbeitet im Reinigungsbereich des Sana-Klinikums.

 

Wenn am 11. September über die Zusammensetzung des Kreistages, der Räte in den Städten und Gemeinden und der Ortsräte abgestimmt wird, stehen auch Kandidaten mit Migrationshintergrund auf den Parteilisten. Einige Kandidaten sind auf dem kommunalpolitischen Parkett keine Unbekannten, andere wiederum sind das erste Mal bei den Kommunalwahlen dabei.

 

(Artikel aus der Dewezet vom 30.06.2011 Seite 16)